Was können Leser in den Kindern des Sisyfos erfahren?
Es sind drei Grundgedanken, die für mich leitmotivisch über der ganzen Tetralogie standen. Die Kombination dieser drei Elemente ist in anderen literarischen Werken selten zu finden.
Die Menschen werden in meinen Romanen gezeigt als welche die arbeiten. Also aus der Nähe die Faszination und die Qual von Fabrikarbeit. Es wird auch über Arbeitsverhältnisse gesprochen, im Zusammenhang zum Beispiel mit Gewerkschaften und Streiks. Ich wüsste nicht, wann in der Belletristik der Bundesrepublik irgendwo mal Gewerkschaften und Betriebsräte auftauchen und Arbeiter, die in und mit ihnen handeln. Für die Lebensumstände von Unternehmern und Freiberuflern gibt es ausreichend Hofberichtserstatter.
Der andere Leitgedanke ist, dass ich von Menschen erzähle, (…) von solchen, die darüber nachdenken, was ihre Lebenssituation mit dem Zustand der Gesellschaft zu tun hat. Sie fragen: was ist unsere Zukunft, was ist die Zukunft der Welt, wogegen müssen wir uns wehren, was gilt es zu fördern? Deshalb versuchen sie einzugreifen – und scheitern oft genug dabei. (…) Das sind die Menschen, die mich vor allen Dingen interessieren, im Leben wie in der Literatur die ich schreibe. In der Wirklichkeit sind jene, die den Sisyfos-Stein bewusst weiterrollen, nicht die Mehrheit, aber wer will, findet sie überall. Ich will meinen Leserinnen und Lesern helfen, solche zu entdecken, weil es wichtig ist, von ihrer Existenz zu wissen.
Die Komplexität meiner Romane gründet darin, dass diese zwei Lebensbereiche beachtet sind und zugleich aber der individuelle Gefühlsbereich, der Menschen meist vordringlich interessiert. Deshalb erzähle ich von Personen, die Liebesbeziehungen haben und sexuelle Erlebnisse. Es sind liebende Menschen, mit den entsprechenden Problemen, die ihnen aus solchen Beziehungen erwachsen. In diesem Bereich gibt es heute zwar mehr Freiheiten, und jahrtausendalte Tabus unsrer christlichen Moralerziehung sind schon öfter in der Literatur relativiert worden. Für mich geht es aber darum (…), das Glück und die Delikatesse solcher intimen Begegnungen zwischen Menschen sichtbar zu machen, eine Sprache für ihre Empfindungen zu entwickeln. Das ist weitgehend Neuland, für mich und die deutschsprachige Literatur, vor allem wenn es im Zusammenhang steht mit realistischer Wirklichkeitsforschung, die an der Arbeitswelt und der politischen Verfassung der Gesellschaft nicht vorbeisieht.
Etwas anders gesagt:
Die Tetralogie ist ein ZeitRoman, ein Epos über die (…) erlebte Zeit, die in ihren vergangenen Aspekten noch gegenwärtig ist. Auch wenn sie im aktiven Gedächtnis in den Hintergrund getreten ist, wird sie durch das Buch wieder wach. Und so funktioniert es auch, zumindest bei Älteren. Die sagen: Es ist unwahrscheinlich, an wie vieles ich mich wieder erinnere, wenn ich diese Bücher lese.
Es gab fast ausschließlich diese ironisch distanzierten oder polemischen Arbeiten über die Achtundsechziger, die aber die Menschen, die damals aufgebrochen waren, nicht in ihrem Selbstverständnis darstellten. Ich dachte, dass es meine Aufgabe sein muss aufzuschreiben, was mein Leben als Bürger und als Schriftsteller beschäftigt hat. Ich bin aus Neugierde und Anteilnahme an Brennpunkte des sozialen Geschehens gefahren, weil ich wissen wollte, wie und warum Zeitgenossen gegen den Hauptstrom schwimmen.
Der Sisyphos-Mythos im Titel ist kein Hinweis auf Vergeblichkeit, sondern auf die Beharrlichkeit von Menschen in ihrem Versuch, den Stein auf den Berg zu bringen und sich nicht entmutigen zu lassen. Ich schreibe von jenen, die wissen, dass die humanitären Ideale und Einrichtungen, die in der Geschichte unserer abendländischen Gesellschaften erarbeitet wurden, bewahrt, verteidigt und weiter entwickelt werden müssen.
- Ein Frühling irrer Hoffnung. Zeitroman, Köln (Dittrich) 2001. Die Handlung spielt in München 1968.
- Zwielicht. Zeitroman, Köln (Dittrich) 2004. Die Handlung spielt u.a. in Immenhausen (Hessen) 1970, Wyhl (Baden) 1975 und Düsseldorf 1977.
- Sonnenflucht. Zeitroman, Berlin (Dittrich) 2005. Die Handlung spielt in Athen 1980.
- Winterdämmerung. Zeitroman, Berlin (Dittrich) 2008. Die Handlung spielt u.a. in Gießen 1980, Düsseldorf 1980, Mörfelden-Walldorf 1981, Bochum 1982, Duisburg-Rheinhausen 1987 und 1989.
- Stimmen zur Sisyfos-Tetralogie
Ausgabe 2018
Die komplette Tetralogie mit Begleitband (erläuterndes Sach- und Personenregister), Paperback, 2310 Seiten, Weilerswist (Velbrück/Dittrich) 2018, ISBN 9783947373239, € 39,90
13. August 2013, 14:15 |
Ihre Tetralogie „Die Kinder des Sisyfos” beeindrucken mich sehr. Wie bei Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstands” wühlen mich die politischen Kämpfe um ein besseres Leben recht auf.
Der dritte Band hat mich erschüttert. Das Zweifeln der Hauptfigur Bliss, wie man denn als Linker in dieser Welt leben kann, soll, darf, muss, das kenne ich nur zu gut.
11. Juni 2014, 17:51 |
Erasmus Schöfer und Peter Weiss
Erasmus Schöfers Tetralogie „Die Kinder des Sisyfos” gehört sicher zu den Höhepunkten der deutschen Gegenwartsliteratur. Dass nur wenige Kenner sie kennen, liegt am Zeitgeist, der an der literarischen Aufarbeitung der sozialen Kämpfe in der Bundesrepublik zwischen 1968 und 1989 uninteressiert ist oder – was ich für wahrscheinlicher halte, sie sogar fürchtet.
Da Schöfers Werk die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen auch in ihren ästhetischen Verarbeitungen behandelt, ist es durchaus mit Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstands” vergleichbar. Es hat ihr gegenüber jedoch mehrere Vorzüge. Trotz aller, auch autobiografischer Bezüge zu realen Personen und Ereignissen, kommen die vier Bände ehrlich als Roman daher, während Weiss’ Werk – vor allem durch die Ich-Form – zumindest vom Leser eher als Dokumentation denn als Fiktion wahrgenommen wurde (ungeachtet dessen, dass es ausdrücklich als Roman untertitelt ist). Bei Weiss deutet sich aus meiner Sicht schon eine typisch postmoderne, höchst manipulative Vermengung von Dokumentarischem und Fiktivem an. Schöfer schrieb in der dritten Person und wagte mehr poetischen Ausdruck – wodurch die Sphären der Wirklichkeit und der Fiktion für den Leser besser zu erkennen sind.
Ein weiterer Vorzug der „Kinder des Sisyfos” ist die Darstellung der Geschlechterverhältnisse, die bei Weiss im Sinne des damals modischen, sehr konservativen Feminismus ausgefallen war – womit ich mich in verschiedenen Abhandlungen über seine Kapitel zu Brecht und dessen Frauen auseinandergesetzt habe. Indem er dem Mann Brecht die volle Verfügungsgewalt über Sexualität und Arbeitskraft der Frauen zuordnete, entsubjektivierte Weiss diese Frauen und schien völlig zu ignorieren, dass sie aus der frauenemanzipatorischen Bewegung der Weimarer Republik stammten, die ihnen berufliche Entwicklungsmöglichkeiten, aber keine gleichberechtigte Marktmacht verliehen hatte. Weiss ignorierte auch, dass aus der kriegsbedingten Männerknappheit in der Weimarer Republik die bürgerlichen Moralvorstellungen stärker denn je aus den Fugen gerieten und dass sich gerade in diesem Klima beachtliche Ansätze sexueller Emanzipation bei Frauen entwickeln konnten. Diese nach dem zweiten Weltkrieg und besonders dann nach 1968 noch wesentlich weiter entwickelten Ansätze sind bei Schöfer selbstverständliche Folie seiner Figurenausarbeitung. Hier führen eigentlich sogar die Frauen das Zepter, begünstigt dadurch, dass die männliche Hauptfigur Bliss ihnen intellektuell vielleicht überlegen, durch seine prekäre Arbeitssituation aber sozial stark unterlegen ist.
Ein dritter Vorzug von Schöfers Werk gegenüber dem von Peter Weiss scheint mir das Fehlen jeder Spur einer „trotzkistischen” Haltung zu sein, ohne, dass er die geringsten Zweifel an der größtenteils selbstverschuldeten Niederlage des Realsozialismus zulässt. Klarer als bei Weiss werden Realsozialismus und soziale Kampferfahrungen im Westen jedoch als keineswegs tote, sondern lebendige Erfahrungen gesehen, ohne deren Auswertung die künftigen Anstrengungen des Sisyphos – wie bei Camus – tatsächlich sinnlos wären.
Sabine Kebir